Der Waisenjunge und die Drachentochter

Erzählung des Miao-Volkes. Aus dem Chinesischen übertragen von Jessica Mayer.

Es war einmal ein Waisenjunge, der hatte Pfeil und Bogen und eine Peitsche und hütete am Ufer des Ligebang-Flusses jahrein, jahraus die Schweine und Ziegen des Tusi, des mächtigen Obmanns jener Gegend. Jahr um Jahr lebte das Kind bei den Schweinen und Ziegen in einem Stall am Fluss. Der alte Tusi behandelte den Jungen schlimmer als ein Dämon. Er gab ihm nicht genug zu essen, nicht genug wärmende Kleider, und schlug und schalt ihn nach Herzenslust.
Doch der Waisenjunge verstand sich gut mit dem einfachen Dorfvolk, also grämte er sich nicht. Alle Abende ging er mit den Jungen des Dorfs zu den Tanzfesten, um die Mädchen beim Mondhaschen zu treffen.
Eines Tages erschien auf dem Fest ein Mädchen, das war schöner als eine Blüte und sang wohlklingender als eine Drossel. Die jungen Burschen waren von ihr bezaubert. Wo sie auftauchte, wurde sie von ihnen umringt. Jeder wollte mit ihr tanzen und singen. Nach einiger Zeit kannte sie alle gut, doch sie entschied sich für keinen von ihnen.

Am Anfang suchte der Waisenjunge wie alle anderen die Nähe des Mädchens, um ausgelassen mit ihr zu singen und zu tanzen. Doch mit der Zeit war ihm nicht mehr nach Gesang und Tanz zumute, es schien, als habe sich das Mädchen in sein Herz eingebrannt. Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie er es anstellen solle, ihm seine innersten Gefühle mitzuteilen.
Mit dem Mädchen hatte es etwas Seltsames auf sich. Zwar hatte es ein lebhaftes Temperament, heißer als Feuer, doch waren ihre Bewegungen leichter als der Wind. Niemand sah, wann sie kam, und niemand wusste, wann sie ging.

Plötzlich kam dem Waisenjungen etwas in den Sinn. Zu einem Tanzabend brachte er einen Fadenknäuel mit, steckte das Ende des Fadens durch ein Nadelöhr und befestigte während des Tanzes die Nadel unbemerkt an des Mädchens Rock. Als es nun Mitternacht wurde, war das Mädchen wie immer mit einem Mal verschwunden. Doch der weiße Faden verriet, wohin sie gegangen war. Am andern Morgen folgte der Waisenjunge dem Faden bis an das Ufer des Ligebang-Flusses und entdeckte, dass der Faden noch weiter bis auf den Grund des Flusses führte. Nach einiger Überlegung beschloss er, am Abend nicht auf das Tanzfest zu gehen, sondern am Flussufer zu warten. Und wirklich kam das Mädchen um Mitternacht so leicht und schnell wie ein Windstoß ans Flussufer. Der Waisenjunge war ausser sich vor Freude. Merkwürdigerweise schien das Mädchen zu wissen, dass er auf sie wartete. Sie ging geradewegs auf ihn zu, und er kam ihr eilig entgegen, zog sie an sich und schüttete ihr sein Herz aus.

Da lachte sie und meinte: „Waisenjunge, ich sehe dich Tag für Tag am Ufer des Ligebang-Flusses und tanze jede Nacht auf dem Fest mit dir, und immerzu sehne ich mich nach dir. Ich bin die Tochter des Drachenkönigs vom Ligebang-Fluss, sende doch so bald wie möglich einen Brautwerber!“
Vor Freude verschlug es dem Jungen fast die Sprache. Doch er meinte: „Dein Vater ist der Drachenkönig, und ich bin ein Waisenjunge. Wie könnte er willens sein, dich mir zur Frau zu geben?“ Die Drachentochter ermutigte ihn: „Solange du nur Entschlossenheit und Mut beweist, werden wir zuletzt bestimmt Mann und Frau, selbst wenn uns mein Vater tausend Steine in den Weg legen sollte!“
Doch der Waisenjunge sorgte sich noch immer: „Dein Vater wohnt im Wasser, wie soll der Brautwerber in den Fluss gelangen?““Du musst nur mit einem Wanderstock dreimal gen Osten und dreimal gen Westen auf den Fluss schlagen, dann wird sich ein Weg auftun.“
So verblieben sie. Der Waisenjunge kehrte heim und bat eine alte Frau um Hilfe. Er führte sie zum Ufer des Flusses und liess sie mit einem Stock dreimal gen Osten und dreimal gen Westen auf das Wasser schlagen. Ein Rauschen war zu hören, da wurde das Wasser zu beiden Seiten gestaut und es tat sich ein breiter Weg am Grund des Flusses auf.
Als die alte Frau in des Drachenkönigs Palast gelangte und die Worte des Waisenjungen überbrachte, da tobte der Drachenkönig vor Wut. Dann sann er nach und sprach: „Für die Hand meiner Tochter müssen drei Verlobungsgeschenke erbracht werden: Das erste sind drei Scheffel Bruchgold und drei Scheffel Bruchsilber. Zum Zweiten drei wertvolle Jadesteine, und als Drittes drei Ballen Goldgras. Fehlt auch nur eines, dann mag er sich die Heirat mit meiner Tochter aus dem Kopf schlagen!“
Die Alte dachte bei sich: „Von diesen Geschenken besitzt er doch nicht ein einziges!“ Sie überbrachte dem Waisenjungen seine Worte und redete ihm gut zu: „Lass die Hoffnung fahren, junger Mann. Überlege doch, was das für hohe Herrschaften sind, denen kannst du nie das Wasser reichen!“
Dem Burschen machten die drei Bedingungen erst einiges Kopfzerbrechen. Doch dann erinnerte er sich der ermutigenden Worte der Drachentochter und war voller Zuversicht, dass er Erfolg haben würde. Er sprach zu der Alten: „Sei getrost, Mütterchen, es wird mir auf jeden Fall gelingen.“

Nun wanderte der Waisenjunge in alle Richtungen auf der Suche nach den Verlobungsgeschenken. Den Osten, Süden und Norden durchstreifte er, ohne etwas zu finden. Doch das machte ihn nicht mutlos, und er setzte seine Reise im Westen fort.
Tag und Nacht wanderte er dahin. Er ging ohne Unterlass, bis er in ein tiefes Tal kam. Da traf er auf einen großen Dämon, der stand auf einem Felsen. Der Waisenjunge griff sogleich nach Pfeil und Bogen und näherte sich ihm. Doch der Dämon erwies sich als friedfertig. Als er den Waisenjungen den Bogen spannen sah, da rief er schnell: „Braves Kind, ängstige dich nicht, ich bin ein guter Dämon und werde dir kein Leid zufügen. Doch will ich dich fragen, wohin dich dein Weg führt?“
Da beruhigte sich der Junge und sagte freundlich: „Ich habe etwas zu tun, wofür ich den ganzen Westen durchkämmen muss.“
Da lachte der Dämon: „Kind, du verstehst es wahrlich, Unsinn zu erzählen. Den Westen durchkämmen, müsstest du da nicht in den Himmel gelangen? Die Menschen bringen mir nun schon seit dreihundert Jahren Opfer dar, und dennoch bin ich noch nie in den westlichen Himmel aufgestiegen. Wie willst du es da schaffen?“
Da lachte auch der Junge: „Die Orte, zu denen du nicht gelangst, müssen nicht unbedingt allen anderen verwehrt bleiben.“
Das sah der Dämon ein und sprach: „Wenn du also wirklich in den westlichen Himmel gelangst, würdest du dann etwas für mich tun? Frag den König dort, warum ich noch immer nicht in den Himmel aufsteigen kann, obwohl die Menschen mir doch schon dreihundert Jahre Opfer bringen.“
Der Junge stimmte ohne weiteres zu und ging seines Weges. Er wanderte, man weiss nicht, wie viele Tage und wie viele Nächte, bis er an den Fuß einer Klippe kam, die gefährlich und steil aufragte. Dort gewahrte er plötzlich einen Schlangendrachen, der sich eingerollt hatte und schlief. Der Junge griff wieder zu Pfeil und Bogen und wollte gerade schießen, als der Schlangendrachen aus dem Schlaf schreckte und sprach: „Schieße nicht, ich tue dir kein Leid. Zieh einfach weiter. Doch wo willst du hin in deiner großen Hast?“
Der Junge steckte Pfeil und Bogen wieder ein und sprach: „Ich habe etwas zu tun, wofür ich den ganzen Westen durchkämmen muss.“
Der Schlangendrachen war auf diese Antwort hin voller Freude: „Dann bitte ich dich, wirst du etwas für mich zu tun? Wenn du in den westlichen Himmel gelangst, dann musst du den Kaiser dort fragen, warum ich die Felsberge nicht verlassen kann.“
Der Junge versprach ihm dies ohne weiteres und ging wieder seines Weges. Er wanderte, man weiss nicht, wie viele Tage und wie viele Nächte. Überall war er gewesen, doch jene Dinge hatte er immer noch nicht gefunden. Da gewahrte er, als er einen Abgrund überwunden hatte, einen Baum, der weit in die Höhe ragte. „Dieser Baum,“ dachte sich der Junge, „der reicht bestimmt bis in den westlichen Himmel. Am besten steige ich erst dort hinauf und trage die Anliegen des großen Dämons und des Schlangendrachens vor, dann sehen wir weiter.“ Also kletterte er, obwohl der Baum von spitzen Dornen bedeckt war, ohne Zögern nach oben und erreichte mit viel Mühe den Wipfel.

Doch vom Wipfel zum Himmel war es immer noch sehr weit. Da verließ den Jungen der Mut. Schon wollte er hinabklettern, als er ein Vogelnest erblickte. Neugierig spähte er hinein und sah eine Elster darin brüten. Die Elster bemerkte den Jungen und sprach: „Kind, warum bist du auf diesen Baum geklettert?“
„Ich habe etwas zu tun, wofür ich den König im westlichen Himmel aufsuchen muss.“
Die Elster sprach: „Von hier kommst du nicht zum westlichen Himmel. Doch wenn du dort bist, würdest du dem König dann an meiner Stelle eine Frage stellen? Warum brüte ich nun seit drei Jahren und habe immer noch keine kleinen Elstern ausgebrütet?“
Der Junge versprach es ihr ohne Umschweife und fragte: „Du kennst doch sicher den Weg zum westlichen Himmel?“
„Nein“ erwiderte diese „aber es heisst, er sei da, wo Himmel und Erde aufeinandertreffen.“
Der Waisenjunge stieg vom Baum hinab und dachte sich: „Auch wenn ich jeden Winkel der Erde abgesucht und die Verlobungsgeschenke dennoch nicht gefunden habe, so kann ich mich doch zumindest noch wegen der Wünsche des großen Dämons, des Schlangendrachens und der Elster an den König wenden.“ So wanderte er entschlossen weiter und kam endlich zum westlichen Himmel. Dort traf er den König. Der saß auf seinem Thron und runzelte die Stirn: „Führen dich deine eigenen Anliegen hierher oder die Anliegen anderer?“, fragte er. Der Junge antwortete: „Meine und die von anderen – -“ Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der König ihn aufbrausend unterbrach: „Willst du nun zuerst die Anliegen der anderen ansprechen oder deine eigenen?“ Der Junge spürte einen Hintersinn in diesen Worten und fragte zurück: „Was geschieht, wenn ich zuerst meine eigenen Anliegen anspreche? Und was geschieht, wenn ich zuerst die Anliegen der anderen anspreche?“ Darauf sagte der König: „Sprichst du die Anliegen der anderen an, so kannst du nicht mehr deine eigenen ansprechen. Sprichst du deine Anliegen an, so kannst du nicht mehr die der anderen ansprechen.“ Darauf überlegte der Waisenjunge, dass zwar sein eigenes Anliegen schwierig sei, dass aber auch die Anliegen des großen Dämons, des Schlangendrachens und der Elster sehr wichtig seien. Zudem waren es deren Aufträge, die ihn überhaupt erst hierher geführt hatten. Also zögerte er nicht weiter und sagte: „Dann möchte ich die Anliegen der anderen ansprechen.“ Daraufhin erzählte er dem König nacheinander von den Anliegen des großen Dämons, des Schlangendrachens und der Elster.
Der König sprach: „Sage ihnen: die Elster kann keine kleinen Elstern ausbrüten, weil sich unter dem Nest drei Ballen Goldstroh befinden. Sie soll das Goldstroh jemandem schenken, dann wird alles gut. Der Schlangendrachen kann die Felsberge nicht verlassen, weil drei wertvolle Jadesteine auf ihm lasten. Er soll sie jemandem schenken, dann wird alles gut. Der große Dämon vermag nicht, in den Himmel aufzusteigen, weil drei Scheffel Bruchsilber und drei Scheffel Bruchgold auf ihm lasten. Er soll das Silber und das Gold jemandem schenken, dann wird alles gut.“

Der Waisenjunge merkte sich das wohl, nahm Abschied vom König und begab sich auf den Heimweg. Er kam zum großen Baum und überbrachte der Elster des Königs Worte. Die Elster holte unter dem Nest drei Ballen Goldstroh hervor und sprach: „Wem anders als dir soll ich dies schenken! Nimm es bitte an.“ Der Junge nahm das Goldstroh an sich und setzte seinen Weg fort. Er kam an den Fuß des Felsens und übermittelte dem Schlangendrachen des Königs Worte. Der Schlangendrachen holte drei Jadesteine von seinem Kopf und sprach: „Wem anders als dir soll ich dies schenken! Nimm sie bitte an.“ Der Waisenjunge nahm die Jadesteine an sich und ging seines Weges. Am Ende kam er in jenes Tal und erzählte dem großen Dämon von des Königs Worten. Der große Dämon nahm drei Scheffel Bruchgold und drei Scheffel Bruchsilber von seinem Körper und sprach: „Wem anders als dir soll ich dies schenken! Bitte nimm sie an.“
So kam es, dass der Junge alle Verlobungsgeschenke fand. Er kam zurück zum Ligebang-Fluss und bat die alte Frau, mit den Verlobungsgeschenken zum Drachenkönig zu gehen. Als der Drachenkönig die Verlobungsgeschenke erhielt, da war ihm nicht wohl zumute. Nie hätte er gedacht, dass der Junge sie wirklich herbeischaffen würde. Er wollte es ihm doch eigentlich damit schwer machen. Doch Worte, die einmal ausgesprochen sind, kann man nicht mehr zurücknehmen, und so blieb ihm nichts übrig, als dem Waisenjungen seine Tochter zur Frau zu geben.

Noch am selben Abend kam plötzlich ein großer Sturm auf, es blitzte und donnerte, der Regen ging laut und heftig nieder. Der Junge fand nicht mehr zurück in den Schlaf aus Angst, seine Strohhütte könnte von den Fluten mitgerissen werden. Die Drachentochter aber tröstete ihn: „Ängstige dich nicht! Meine Eltern und meine Brüder haben gesehen, in welcher Armut wir leben, und deshalb lassen sie uns ein Haus aus Ziegeln errichten.“ Daraufhin beruhigte er sich und schlief wieder ein. Am andern Morgen stand tatsächlich vor ihrer Strohhütte plötzlich ein hohes Ziegelhaus, das in leuchtenden Farben erstrahlte. Da verliessen die beiden ihre Strohhütte und zogen voller Freude in das Ziegelhaus.
Doch da war noch der Tusi. Der erfuhr, dass der Waisenjunge eine gute Frau gefunden und ein hohes Ziegelhaus errichtet hatte. Er wollte das nicht glauben und ging mit seinen Gefolgsleuten hin, um es eigenen Auges zu sehen. Als er an das Ufer des Ligebang-Flusses kam, da gewahrte er tatsächlich ein hohes Ziegelhaus, das in leuchtenden Farben erstrahlte. Er wollte sich damit nicht abfinden und dachte bei sich: „Ich habe so viel Macht und Besitz, und doch komme ich an ihn nicht heran!“ Also liess er den Waisenjungen kommen und fragte ihn: „Wer hat dein Haus gebaut?“ „Das waren die Knechte meiner Frau“ antwortete dieser.
Als der Tusi erfuhr, was für eine großzügige Frau der Waisenjunge gefunden hatte, verfiel er auf einen Plan. Er vergaß seine hohe Stellung und ging mit dem Jungen in das Ziegelhaus. Dort setzte er sich auf einen Schemel und hieß ihn, eilends seine Frau herbeizuholen. Darauf rief der Junge: „Drachentochter, Drachentochter, der Tusi möchte dich sehen, komme heraus.“ Sie trat aus dem Schlafgemach, und als ihr Gesicht zur Hälfte hinter der Tür hervorlugte, da strahlte und blitzte es ganz merkwürdig im Raume, und der Tusi war so geblendet, dass ihm schwarz vor Augen wurde, und er zu Boden fiel. Erst nach einer Weile rappelte er sich wieder hoch und wollte wissen: „Das ist also deine Frau?“ „Ja“ war die Antwort.
Der Tusi runzelte die Stirn, und wortlos ritt er mit seinem Gefolge wieder heim. Zwei Tage darauf liess er den Waisenjungen wieder kommen und sprach: „Lass uns beide Wettrennen zu Pferde veranstalten. Solltest du verlieren, ist deine Frau mein.“

Der Waisenjunge hatte kein Pferd und war voller Sorge. Er lief geschwind nach Hause, um sich mit der Drachentochter zu beraten. Diese sprach: „Ängstige dich nicht, gehe morgen zum Ufer des Flusses und schlage, wie du es bereits getan, mit dem Wanderstock dreimal gen Osten und dreimal gen Westen, dann wird meines Vaters Rennpferd erscheinen und du musst nichts weiter tun, als es hinzuführen und gegen den Tusi anzutreten.
Der Junge tat wie ihm geheißen, und er erhielt tatsächlich das große Pferd des Drachenkönigs. Kaum saß er auf, da war er schon beim Haus des Tusi anglangt. Dieser sagte: „Ich reite voraus, verfolge mich!“ Dies gesagt, sprang er siegesgewiss auf sein Ross und gab ihm ein paarmal die Peitsche, und das Pferd galoppierte über die Ebene, bis es in einen Schlammtümpel stürzte und nicht mehr herauskam.
Der Waisenjunge hatte erst als der Tusi in weiter Entfernung war seinem Ross die Sporen gegeben. Ohne einen einzigen Peitschenhieb flog das Ross dahin, es jagte von der Ebene hin zum Schlammtümpel und von dort wieder zurück, ohne dass seine Hufe auch nur einen Schlammspritzer aufwiesen. Dem Tusi blieb nichts übrig, als seine Niederlage einzugestehen, doch kam ihm sogleich ein neuer Plan, und er sprach: „Das zählt nicht. Wir wollen um die Wette schießen. Derjenige, der es nicht schafft, seinen Pfeil in den großen Felsen dort zu bohren, der hat verloren. Solltest du verlieren, ist deine Frau mein.“

Zwar verstand sich der Waisenjunge trefflich auf die Kunst des Bogenschießens. Doch war es kein Leichtes, den Pfeil in den Fels zu bohren, und so kehrte er heim, um sich mit der Drachentochter zu beraten. Diese sagte: „Wenn du mit meines Vaters großer schwarzer Armbrust umzugehen weisst, dann leihe sie dir aus, und du wirst gewiss den Pfeil in den Fels bohren.“ Also ging der Junge wieder zum Ufer des Flusses, lieh sich des Drachenkönigs große schwarze Armbrust und kehrte zum Tusi zurück.
Der hatte bereits jemanden beauftragt, einen Pfeil in den Felsspalt zu stecken, und er sagte zu dem Jungen, er wolle als erster schießen. Dann schoss er und rief sogleich: „Sieh, mein Pfeil hat sich in die Felsritze gebohrt!“
Der Junge hatte genau gesehen, dass der Pfeil nicht weit entfernt am Fluss zu Boden gefallen war, aber er kümmerte sich nicht darum, sondern spannte selbst die Armbrust und schoss den Pfeil ab, der den Felsen durchbohrte. Bei diesem Anblick bekam der Tusi einen gewaltigen Schreck. Aber noch immer gab er sich nicht geschlagen, sondern sprach zu dem Jungen: „Morgen musst du mit nur drei Axthieben den großen Baum da fällen. Gelingt es dir nicht, dann ist deine Frau mein.“

Zu Hause beriet sich der Junge sogleich mit der Drachentochter. Die liess ihn wieder an den Ligebang-Fluss gehen und eine Zauberaxt ausleihen. Nur zwei Axthiebe brauchte er, und der große Baum war gefällt. Da war der Tusi mit seinem Witz am Ende und verfiel auf einen bösen Plan: „Wir wollen unsere Frauen und Häuser tauschen. Schon morgen musst du mir antworten.“
Der Junge war voller Sorge ob dieser Worte und teilte sie der Drachentochter mit. Die lachte und sagte: „Ängstige dich nicht, tausche nur mit ihm.“ Da erschrak der Junge: „Bist du etwa dazu bereit?“ „Warte nur ab,“ meinte sie, „du wirst es noch verstehen!“
Am nächsten Tag sagte der Junge zum Tusi: „Ich bin einverstanden, dass wir die Frauen und den Besitz tauschen. Gehe nur hin.“
Der Tusi sprang vor Freude in die Luft und meinte: „Gut, kümmere du dich um mein Haus, ich will nun zu deinem gehen.“
Schnellen Schrittes kam er zu des Jungen Haus, und die Drachentochter tat so, als nähme sie ihn freundlich und aufmerksam auf. Als es Abend wurde, sagte sie zu ihm, er möge sich schon einmal ins Bett legen, sie wolle noch ein wenig nähen. Der Tusi rief: „So komm doch, meine Schöne.“ Sie antwortete: „Herr, nun bist du hier, und ich habe noch keine guten Kleider, lass mich die Nacht über eines nähen, und morgen wollen wir einen schönen Tag in meines Vaters Haus verbringen.“ Nach einer Weile rief der Tusi wieder: „Komm doch, meine Schöne.“ „Ja, gleich“ war die Antwort der Drachentochter.
Als es Mitternacht wurde, da überkam den Tusi die Müdigkeit, und er fiel in tiefen Schlaf. Die Drachentochter ergriff die Gelegenheit und stahl sich davon. Der Tusi schreckte aus dem Schlaf und begann überall nach ihr zu suchen. In diesem Augenblick erhob sich ein gewaltiger Lärm. Das hohe Ziegelhaus stürzte ein und begrub den Tusi unter sich.

Als die Drachentochter sah, dass er tot war, eilte sie zu dem Waisenjungen, und nun suchte sich das Paar einen Ort, an dem es glücklich und zufrieden miteinander leben konnte.

(c) Jessica Mayer